Das Kriegsgebet

Textauszug von Mark Twain eigentl. Samuel Langhorne Clemens (* 30. November 1835 in Florida, Missouri; † 21. April 1910 in Redding, Connecticut)
Das Land war in großer Aufruhe: bald sollte es Krieg geben und das bedeutete, dass die Männer fortzogen und ihre Ehre bewiesen, dass ein jeder im kühnsten Patriotismus schwelgte, dass es grandiose Märsche zu bestaunen gab und schillernd neue Uniformen... Familien waren stolz auf ihren Sohn oder Gatten, und wurden von anderen beneidet. Dann kam der letzte Sonntag vor Kriegsbeginn, und alle strömten in die Kirche zum Gottesdienst. Hier fand das Gebet statt für Ruhm und Ehre, hier wurde Gott angerufen die Soldaten zu behüten und die grandiose Fürbitte getan, dass sie siegesreich heimkehren würden. Da trat ein Fremder in die Kirche, mit weißen wallendem Haar und stieg empor an die Seite des Priesters. Dort nahm er nach einer Weile das Wort:

">>Ich komme von Seinem Thron - und bringe eine Botschaft Gottes, des Allmächtigen. Er hat das Gebet Seines Dieners, Eures Hirten, vernommen und will es erhören, falls dieses noch euer Wunsch ist, wenn ich, Sein Bote, euch die [volle] Tragweite des Gebetes erläutert habe. Gottes Diener, der auch der eure ist, hat sein Gebet gesprochen. Hat er innegehalten und nachgedacht? Ist es ein einziges Gebet? Nein, es sind zwei - das eine ausgesprochen, das andere nicht [...] Wollt ihr einen Segen für euch selbst erbitten, hütet euch, auf dass ihr nicht ungewollt geleichzeitig einen Fluch auf eueren Nächsten herabbeschwört. Ich bin [also] von Gott beaufragt, den anderen Teil in Worte zu fassen - jenen Teil, den der Pfarrer - und auch ihr in euerm Herzen - inbrünstig im Stillen gebetet habt. [Euer] ganzes ausgeprochenes Gebet ist in [folgenden] bedeutungschweren Worten zusammengefasst: >Gewähre uns den Sieg, o Herr, unser Gott!< Als ihr um Sieg gebetet habt, habt ihr um viele unerwähnte Folgen gebtet, die der Sieg mit sich bringen muss. Höret also!
O Herr, unser Vater, hilf uns, mit unseren Granaten ihre Soldaten in blutige Stücke zu reißen, hilf uns ihre lieblichen Auen mit den bleichen Gestalten ihrer Patrioten zu bedecken; hilf uns, durch einen Feuersturm ihre bescheidenen Hütten zu verwüsten; hilf uns, auf dass die Herzen der schuldlosen Witwen vor hoffnungsloser Trauer brechen; hilf uns, sie mit ihren kleinen Kindern von Haus und Hof zu vertreiben [...] o Herr, zerstöre ihre Hoffnung, vernichte ihr Leben, tränke mit Tränen ihren Pfad, den weßen Schnee bedecke mit Blut ihrer wunden Füße! Wir erbitten dies im Geiste der Liebe von Dem, der die Quelle der Liebe und die getreue Zuflucht all jener ist, die leidgeprüft sind und Seinen Beistand mit demütigen und zerknirschten Herzen suchen. Amen.
(Nach einer Pause) Ihr habt darum gebetet; begehrt ihr es jetzt noch, so sprecht! Der Bote des Allerhöchsten wartet.<< Später nahm man an, der Mann sei ein Verrückter gewesen, denn was er gesagt hatte, war ganz unsinnig."

Auszug aus: Das Kriegsgebet/ Maisbrotüberzeugungen aus: König Leopolds Selbstgespräch, Aufbau Verlag Berlin 1979